Eigentlich könnten wir uns als Ärztinnen und Ärzte bei dieser Frage ganz gemütlich zurücklehnen: Unser Gesundheitswesen ist ein Wachstumsmarkt. Aufgrund der demographischen Entwicklung werden wir Ärztinnen und Ärzte in Zukunft sicherlich nicht weniger zu tun bekommen. Das Gesundheitswesen gehört mit großer Sicherheit zu den wenigen Bereichen in unserer Gesellschaft, in denen auch für die Zukunft mit einem Beschäftigungsanstieg zu rechnen ist.
Dennoch lohnt es sich, über die zunehmende Ökonomisierung der Medizin nachzudenken. Ärztinnen und Ärzte sind als Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet worden, um Menschen zu heilen – weniger als Betriebswirtinnen und Betriebswirte. Dennoch spielen wirtschaftliche Aspekte eine immer größere Rolle in der Ausübung unseres Berufs.
Zunächst ein paar Zahlen
Etwa 35 Prozent der deutschen Krankenhäuser sind private Kliniken. Noch zu Beginn der Neunzigerjahre lag der Anteil der Krankenhäuser in privater Trägerschaft bei rund 15 Prozent.
Im gleichen Zeitraum verminderte sich die Anzahl der Krankenhäuser um maximal ein bis zwei Prozent. Zu einem befürchteten Massensterben von Kliniken ist es also nicht gekommen.
Im besagten Zeitraum sank aber die durchschnittliche Verweildauer der Patientinnen und Patienten, also der Krankenhausaufenthalt, von 14 auf 7,5 Tage, und die Anzahl der Betten ging um etwa 25 Prozent zurück.
Es gibt also auch im Krankenhauswesen deutliche Produktivitätsfortschritte.
Vor Aufnahme meiner Tätigkeit in der renommierten privaten Max-Grundig-Klinik leitete ich über 20 Jahre eine internistische Abteilung in einem akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg.
Zusammen mit unserem Wirbelsäulenchirurgen, der weit über die nationalen Grenzen hinaus bekannt war, gelang es uns in diesem Zeitraum – auch durch die Besetzung wichtiger medizinischer und politischer Ämter durch die leitenden Ärztinnen und Ärzte – diese „kleine Klinik auf dem Lande“ weit überregional bekannt zu machen.
Das verlangte uns allen einen hohen Arbeitseinsatz ab.
Der Erfolg und die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten verhinderten über viele Jahre einen „Lustverlust“, obwohl sich mit der Einführung der Fallzahlen und Fallpauschalen mehr und mehr ein „Terror der Ökonomie“ breit machte.
Ab diesem Zeitpunkt war die Arbeit eines leitenden Arztes in einem deutschen Krankenhaus in der Regel nicht mehr vergnügungssteuerpflichtig.
In 23 Jahren als Chefarzt habe ich sage und schreibe 15, zuletzt rein bonusgesteuerte Geschäftsführer „überlebt“. Dazu braucht es wirklich ein gesundes Maß an seelischer Abwehrkraft.
Diktat des Wachstums?
Wachstum von Kliniken bedeutet an vielen Standorten Verdrängungswettbewerb. Ballast muss abgeworfen werden, Spezialisierungen sind angesagt.
Die wichtigsten Barrieren dieses Prozesses sind dabei:
Der Investitionsstau in maroden alten Krankenhäusern und ein hohes Innovationstempo in der Medizin.
Aus Verwaltungsdirektorinnen und Verwaltungsdirektoren mussten Strateginnen und Strategen werden.
Chefarztsitzungen mutierten zu Managementmeetings zur Gewinnoptimierung.
Auf der Strecke blieben und bleiben Non-Profit-Abteilungen, zum Beispiel für Geburtshilfe. Klinikschließungen und Schließungen von medizinischen Fachabteilungen sind inzwischen an der Tagesordnung.
Klinikmanagerinnen, Klinikmanager und Landrätinnen oder Landräte begründen das dann nicht mit Wirtschaftlichkeit, sondern mit Qualität. Damit wird wirkungsvoll ein Aufstand in der Bevölkerung verhindert.
Andererseits schreiben über 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser rote Zahlen – auch dieses Faktum gilt es zu bedenken.
Die meisten Chefärztinnen und Chefärzte in Krankenhäusern sind davon überzeugt, dass der vorherrschende Blick aufs Geld heute negative Auswirkungen auf die Versorgung der Kranken hat.
Viele Chefärztinnen und Chefärzte erleben im Alltag regelmäßig Entscheidungskonflikte zwischen ärztlichen und wirtschaftlichen Zielsetzungen.
Gemessen an Wertschöpfung und Beschäftigung ist das Gesundheitswesen ein großer Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Gesundheit ist kostbar, aber gleichzeitig auch kostspielig.
Wachstumswahn in der Medizin führt in aller Regel zu einer schlechteren Versorgung unserer Patientinnen und Patienten.
Für zu viele unnötige Diagnostik und nicht indizierte Eingriffe unter dem Terror der Ökonomie sind nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, sondern auch ein falsch steuerndes Management zur Verantwortung zu ziehen.
In der privaten Klinik, für die ich jetzt verantwortlich bin, habe ich diesen Druck so nie gespürt.
„Wachstum über alles“ war in dieser Privatklinik nie das Motto.
Primärer Zweck unserer Klinik ist es nicht, Gewinn oder eine angemessene Kapitalverzinsung zu erzielen, sondern die optimale Versorgung der uns anvertrauten Kranken.
Dennoch müssen wir einsehen, dass auch für von Stiftungen getragene Krankenhäuser wirtschaftliche Kennzahlen wichtig sind.
Defizitäre Jahresabschlüsse führen bei allen Trägern zum Lustverlust.
Deshalb müssen auch wir unsere Belegung in allen Abteilungen weiter steigern. Auch die ambulanten Zahlen müssen deutlich besser werden.
Dazu müssen Mitarbeitende in allen Bereichen ihre Komfortzonen verlassen. Das sind wir wie alle anderen Krankenhäuser den Trägern schuldig.
Die Ökonomisierung der Medizin lässt sich gewiss nicht zurückdrehen, ich plädiere jedoch bei wirtschaftlichen Aspekten für ein vernünftiges und patientengerechtes Augenmaß.