Donnerstag, 15. Juni

Ärzte im Spannungsfeld

Entscheidungskonflikte

Statement von Prof. Dr. Diehm

Es mag sein, dass in manchen Kreisen das Lifting, Falten glätten oder Linien begradigen immer noch ein „Nasenrümpfen“ Wachstum ist die vorherrschende Zielvorstellung unseres Wirtschaftssystems. Unternehmenswachstum gilt als Leistungsnachweis. Ist stetiges Wachstum auch für eine zukunftsfähige Medizin die richtige Handlungsoption? Lässt sich Medizin überhaupt sinnvoll ökonomisieren?

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hush-naidoo-yo01Z | unsplash.com

Eigentlich könnten wir uns als Ärzte bei dieser Frage ganz gemütlich zurücklehnen: Unser Gesundheitswesen ist ein Wachstumsmarkt. Aufgrund der demographischen Entwicklung werden wir Ärzte in Zukunft sicherlich nicht weniger zu tun bekommen. Das Gesundheitswesen gehört mit großer Sicherheit zu den wenigen Bereichen in unserer Gesellschaft, in denen auch für die Zukunft mit einem Beschäftigungsanstieg zu rechnen ist.

Dennoch lohnt es, sich über die zunehmende Ökonomisierung der Medizin Gedanken zu machen. Ärzte sind als Mediziner ausgebildet worden, um Menschen zu heilen, und weniger als Betriebswirte. Dennoch spielen wirtschaftliche Aspekte eine immer größere Rolle in der Ausübung für unseren Beruf.

Zunächst ein paar Zahlen:

  • Etwa 35 Prozent der deutschen Krankenhäuser sind private Kliniken. Noch zu Beginn der
    Neunzigerjahre lag der Anteil der Krankenhäuser in privater Trägerschaft bei rund 15
    Prozent.
  • Im gleichen Zeitraum verminderte sich die Anzahl der Krankenhäuser um maximal ein bis
    2 Prozent. Zu einem befürchteten Massensterben von Kliniken ist es also nicht gekommen.
  • Im besagten Zeitraum sank aber die durchschnittliche Verweildauer der Patienten, also der
    Krankenhausaufenthalt, von 14 auf 7,5 Tage und die Anzahl der Betten ging um etwa 25
    Prozent zurück.

Es gibt also auch im Krankenhauswesen deutliche Produktivitätsfortschritte.

Vor Aufnahme meiner Tätigkeit in der renommierten privaten Max-Grundig-Klinik leitete ich über 20 Jahre eine internistische Abteilung in einem akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg.
Zusammen mit unserem Wirbelsäulenchirurgen, der weit über die nationalen Grenzen hinaus bekannt war, gelang es uns in diesem Zeitraum – auch durch die Besetzung von wichtigen medizinischen und politischen Ämtern durch die leitenden Ärzte – diese „kleine Klinik auf dem Lande“ weit überregional bekannt zu machen.
Das verlangte uns allen einen hohen Arbeitseinsatz ab.
Der Erfolg und die Zufriedenheit der Patienten verhinderte über viele Jahre einen
„Lustverlust“, obwohl mit dem Beginn der Einführung der Fallzahlen und der Fallpauschalen sich mehr und mehr ein „Terror der Ökonomie“ breit machte.

Ab diesem Zeitpunkt war die Arbeit eines leitenden Arztes in einem deutschen Krankenhaus in der Regel nicht mehr vergnügungssteuerpflichtig.
In 23 Jahren als Chefarzt habe ich sage und schreibe 15 zuletzt rein bonusgesteuerte Geschäftsführer „überlebt“. Dazu braucht es wirklich ein gesundes Maß an seelischer Abwehrkraft.

Diktat des Wachstums?

Wachstum von Kliniken bedeutet an vielen Standorten Verdrängungswettbewerb. Ballast muss abgeworfen werden, Spezialisierungen sind angesagt.

Die wichtigsten Barrieren dieses Prozesses sind dabei:

  • Der Investitionsstau in maroden alten Krankenhäusern und ein hohes Innovationstempo in der Medizin.
  • Aus Verwaltungsdirektoren mussten Strategen werden.
  • Chefarztsitzungen mutierten zu Managementmeetings zur Gewinnoptimierung.

Auf der Strecke blieben und bleiben Non Profit-Abteilungen, zum Beispiel für Geburtshilfe. Klinikschließungen und Schließungen von medizinischen Fachabteilungen sind inzwischen an der Tagesordnung.

Klinikmanager und Landräte begründen das dann nicht mit Wirtschaftlichkeit, sondern mit
Qualität.
Damit wird wirkungsvoll ein Aufstand in der Bevölkerung verhindert.
Andererseits schreiben über 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser rote Zahlen – auch dieses Fakt gilt es zu bedenken.

Die meisten Chefärzte in Krankenhäusern sind davon überzeugt, dass der vorherrschende
Blick aufs Geld heute negative Auswirkungen auf die Versorgung der Kranken hat.
Viele Chefärzte erleben im Alltag regelmäßig Entscheidungskonflikte zwischen ärztlichen und wirtschaftlichen Zielsetzungen.

Gemessen an Wertschöpfung und Beschäftigung ist das Gesundheitswesen ein großer
Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Gesundheit ist kostbar aber gleichzeitig auch kostspielig.

Wachstumswahn in der Medizin führt in aller Regel zu einer schlechteren Versorgung unserer Patienten.
Für zu viele unnötige Diagnostik und nicht indizierte Eingriffe unter dem Terror der Ökonomie sind nicht nur die Ärzte, sondern auch ein falsch steuerndes Management zur Verantwortung zu ziehen.

In der privaten Klinik, für die ich jetzt verantwortlich bin, habe ich diesen Druck so nie gespürt.
„Wachstum über alles“ war in dieser Privatklinik nie das Motto.
Primärer Zweck unserer Klinik ist es nicht, Gewinn oder eine angemessene Kapitalverzinsung zu erzielen, sondern die optimale Versorgung der uns anvertrauten Kranken.

Dennoch müssen wir einsehen, dass auch für von Stiftungen getragene Krankenhäuser wirtschaftliche Kennzahlen essenziell sind.
Defizitäre Jahresabschlüsse führen bei allen Trägern zum Lustverlust.
Deshalb müssen auch wir unsere Belegung in allen Abteilungen weiter steigern. Auch die ambulanten Zahlen müssen deutlich besser werden. Dazu müssen Mitarbeiter in allen Bereichen ihre Komfortzonen verlassen. Das sind wir wie alle anderen Krankenhäuser den Trägern schuldig.

Die Ökonomisierung der Medizin lässt sich gewiss nicht zurück drehen, ich plädiere jedoch bei wirtschaftlichen Aspekten für ein vernünftiges und Patienten gerechtes Augenmaß.