Mittwoch, 14. Juni

Der gefährliche Schluck

Alkohol und Stress

von Natascha Plankermann

Süchtige Ärzte – ein Tabu-Thema. Dennoch: Die Ärztekammer Hamburg rechnet damit, dass es in Deutschland gut 7.000 alkoholabhängige Mediziner gibt und die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) weiß von vielen Todesfällen unter Ärzten nach einer Überdosis Medikamente. Inzwischen gibt es immer mehr Hilfsangebote

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Gerd-Altmann / pixelio.de

Die junge Anästhesistin weiß kaum, wie sie ihren Alltag mit dem stressigen Job und der anstrengenden Familie meistern soll. Wohltuend entspannt fühlt sie sich zum ersten Mal wieder, nachdem sie einige Tilidin-N-Tropfen genommen hat. Das Opiat tut seine Wirkung – immer wieder in steigender Dosis, bis die Ärztin schwanger wird. Dann setzt sie die Tropfen ab, nimmt diese aber gleich wieder, sobald sie das Kind nicht mehr stillen muss. Rückblickend sagt sie: „Im Grunde wusste ich, dass ich suchtkrank bin. Ich war jedoch so in der Sucht gefangen, dass ich den Tilidinmissbrauch vor mir selbst rechtfertigte und bagatellisierte. Schließlich konnte ich mir so meine… Lebenssituation aushaltbar gestalten und immer noch einigermaßen (auf niedrigem Niveau) funktionieren.“

Tod nach einer Überdosis

Dieser Fall ist einer der wenigen, die an die Öffentlichkeit kommen – durch ein Interview, das Professor Christoph Maier von der Abteilung für Schmerzmedizin im Uniklinikum Bergmannsheil der Bochumer Ruhr-Uni mit der Frau geführt hat. Maier beschäftigt sich in Namen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) mit dem Thema „Ärzte und Sucht“. Eine erste Erhebung der DGAI ergab 2009 nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Focus“, dass 451 Narkose-Chefärzte von 310 Kollegen wussten, die im Laufe der zurückliegenden zehn Jahre suchtkrank wurden. Sie nannten jedoch nur die dramatischen Fälle: An einer Überdosis Medikamente waren 53 Mediziner gestorben, gegen die anderen hatten die Kliniken ein Disziplinarverfahren eingeleitet oder die Polizei ermittelte gegen sie.

Propofolabhängig wie Michael Jackson

Die Zahlen sprechen für sich – schnell greift der Kollege zur Tablette oder zum Glas Hochprozentigen, wenn er meint, den beruflichen und möglicherweise auch familiären Druck nicht mehr ertragen zu können. Da ist es im negativen Sinne praktisch, dass Medikamente für Ärzte so leicht verfügbar sind. Vor allem Anästhesisten tragen aus diesem Grund ein höheres Risiko, von Opioden oder wie Michael Jackson von Propofol abhängig zu werden. So erging es auch der oben genannten Ärztin, deren Fall Professor Maier in der Fachzeitschrift „Anästhesist“ als warnendes Beispiel schildert. Und die Ärztekammer Hamburg schätzt mit Blick auf rund 1,7 Millionen alkoholabhängige Deutsche: „Bezogen auf die Anzahl der in Deutschland tätigen Ärzte (330.000) bedeutet dies gut 7.000 Abhängige.“

Die Angst vor dem Jobverlust

In einer solchen Situation Hilfe zu suchen und anzunehmen, fällt gerade Ärzten oft schwer: Einerseits sehen sie sich gern als unverwundbare Helfer, die selber nicht krank werden oder die Kontrolle über sich selbst verlieren. Andererseits fürchten sie, dass sie dazu gezwungen werden, ihren Beruf aufzugeben, wenn sie sich als Süchtige „outen“. Hinzu kommt die Angst, man könne mit dem Finger auf sie zeigen. Sucht-Experte Professor Christoph Maier bemerkt jedoch auch, dass „Vorgesetzte und Kollegen selbst bei gemeldeten Unregelmäßigkeiten im Opiodverbrauch offenbar nicht mit der Möglichkeit eines Missbrauchs durch die eigenen Ärzte rechnen oder sogar darüber hinwegsehen“. Er fordert eine Überwachung der Abgabe von Substanzen wie Propofol und zusätzlich Richtlinien, die festlegen, wie mit Suchtverdächtigen umgegangen werden soll. In Amerika befasst sich Patrick J. Skerrett, Herausgeber der Harvard Health Publikationen, mit dem Thema und listet die Anzeichen auf, an denen man erkennen kann, ob ein Arzt ein Suchtproblem hat. Verdächtig ist, wer

  • stammelt oder „verwaschen“ spricht,
  • Probleme mit der Koordination hat,
  • ungewöhnlich vergesslich wirkt,
  • ungepflegt aussieht,
  • schnell irritiert oder verärgert werden kann,
  • überaus emotional reagiert.

Das können natürlich auch Anzeichen privater oder psychischer Probleme sein – in jedem Fall lohnt sich ein Gespräch mit den Betreffenden und das Angebot von Hilfe.

Spezielle Interventionsprogramme

Die gibt es inzwischen in vielerlei Hinsicht. Die Hamburger Ärztekammer war nach eigenen Angaben die erste, die Anfang der 1990er Jahre begann, sich hierzulande mit dem Tabu-Thema „Ärzte und Sucht“ zu befassen. Der damalige Ärztliche Geschäftsführer Dr. Klaus-Heinrich Damm half erkrankten Kollegen, sich in Behandlung zu begeben, woraus im Lauf der Jahre ein besonderes Suchtinterventionsprogramm entstand.  Die Bundesärztekammer listet inzwischen in jedem Bundesland Ansprechpartner für solche strukturierten Programme auf, die dafür sorgen sollen, dass Ärzte in ihrer Erkrankung nicht allein gelassen werden – und gleichzeitig ihre Patienten nicht gefährden. Teil des Hamburger Interventionsprogramms ist der organisatorisch unterstützte Aufenthalt in einer auf Ärzte und Akademiker spezialisierten Suchtklinik, der etwa zwei Monate dauert. Die Kammer sorgt in dieser Zeit für eine Praxisvertretung und bespricht mit dem Versorgungswerk die Kostenübernahme. Auch eine Nachsorge gehört dazu.

Erfolgsgeschichte nach der Therapie

„Schauen wir auf die vergangenen zehn Jahre, so wurden etwa 60, vorwiegend alkoholkranke Ärzte betreut“, erklärt die Hamburger Kammersprecherin Dorthe Kieckbusch. 70 bis 75 Prozent schaffen es nach ihren Worten auf diese Weise, ohne Rückfall von der Sucht loszukommen. „Nur bei zehn Prozent müssen wir feststellen, dass die Intervention nicht weiterhilft. Hier bleibt uns kein anderer Weg, als die Approbationsbehörde einzuschalten, die weitere Schritte einleitet.“ Die Anästhesistin, die Sucht-Experte Professor Maier interviewte, hat den Ausstieg aus der Sucht geschafft: Auch ein Jahr nach einer stationären Therapie ist sie nicht wieder rückfällig geworden. Allerdings hat die Landesärztekammer immer noch ein wachsames Auge auf sie…

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Informationen:

Interventionsprogramme der Landesärztekammern für suchtkranke Ärztinnen und Ärzte: www.bundesaerztekammer.de, zu finden unter Ärzte / Suchtmedizin. Dort finden sich auch Links zu Selbsthilfegruppen.

Lebensbedrohliche Fentanyl- und Propofolabhängigkeit, Interview mit einer Überlebenden. C. Maier und J. Leclerc-Springer in „Anästhesist 2012“, online publiziert vom Springer-Verlag 2012.