Wenn Patienten sterben
Jeden Tag sterben Menschen auf dieser Welt. Das ist kein Geheimnis und jeder weiß es. Aber solange es nicht uns selbst betrifft, können wir darüber hinwegsehen und damit leben. Das ist auch gut so, denn wir würden verrückt werden, wenn wir ständig an unsere Vergänglichkeit und mögliche Verluste erinnert würden. Doch irgendwann holt es uns alle mal ein. Dann müssen wir unseren ganz persönlichen Weg finden, um damit fertig zu werden.
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Ich habe im Laufe meines Lebens schon viele Menschen sterben sehen. Vor allem waren es alte und sehr kranke Menschen. Es ist nicht leicht, immer damit klar zu kommen. Oft denkt man sich aber „Jetzt hat er es endlich geschafft und muss sich nicht mehr quälen.“. Es sieht aber anders aus, wenn es sich um junge Menschen handelt, die vielleicht noch ihr ganzes Leben vor sich haben.
Ich habe einmal auf einer hämatologischen Intensivstation gearbeitet, wo auch Stammzelltransplantationen durchgeführt werden. Auf einer solchen Station ringt jeder Patient um sein Leben. Nur, dass hier das Durchschnittalter wesentlich niedriger ist, als auf anderen Stationen. Da liegen dann nicht nur über 80-jährige. Nein. Viele Patienten sind erst 40 oder 50 Jahre alt oder sogar noch jünger.
In dieser Zeit habe ich auch eine Patientin kennengelernt, die erst 20 Jahre alt war. Sie hatte bereits eine autologe Stammzelltransplantation erhalten. Doch die Leukämie kam zurück. Nun sollte sie eine allogene Transplantation erhalten. Als ich sie das erste Mal sah, sah sie gar nicht krank aus. Sie hatte schulterlange blonde Haare und ein sehr hübsches Gesicht. Es wurde sofort mit der Chemotherapie begonnen und es dauerte nicht lang und ihre blonden Haare fielen aus. Es folgte die Transplantation und alles sah zunächst sehr gut aus. Die neuen Zellen schienen anzuwachsen und ein neues Immunsystem aufzubauen. Doch ihr Herz hatte die Chemotherapie nicht gut verkraftet. Es ging ihr immer schlechter. Sie bekam ein Lungenödem und Luftnot. Kurz vor Weihnachten verstarb sie.
Obwohl alles Mögliche versucht wurde, konnte der Kampf nicht gewonnen werden. Das ganze geschah innerhalb von zwölf Wochen. In solch einem Zeitraum lernt man die Patienten besser kennen, als auf normalen Stationen. Man kennt ihre Vorlieben, Wünsche und Träume. Man kennt ihre Angehörigen und Freunde, die tagtäglich vorbei kommen. Und obwohl man wirklich alles versucht hat, fragt man sich immer wieder, ob man vielleicht doch etwas übersehen hat oder etwas hätte anders machen können. Bei solchen Patienten fällt das Loslassen besonders schwer. Ich werde dieses Mädchen nie vergessen.
In solchen Situationen muss man aber nicht nur schauen, wie man selbst damit umgehen kann. Es sind auch die Angehörigen und Freunde, die dann vor einem stehen und Antworten und Trost erwarten. Jeder Mensch ist anders und braucht seinen ganz persönlichen Zuspruch.
War man vielleicht selbst schon einmal in der Situation und hat einen geliebten Menschen verloren, weiß man, wie es den Angehörigen dann geht. Man ist dann plötzlich kein Mediziner mehr, sondern auch einfach nur noch ein Mensch, der um seinen geliebten Angehörigen trauert. Ein Mensch, der sich dann genauso Antworten, Zuspruch und Trost erhofft, wie jeder andere auch.
Vor neun Jahren habe ich meine Mama nach einem Unfall verloren. Als ich morgens aus dem Haus ging, war noch alles normal. Abends saß ich dann mit meinem Papa an ihrem Sterbebett und hielt ihre Hand. Um uns herum liefen Ärzte und Schwestern. Sie taten alles, was sie konnten, aber es hatte leider keinen Erfolg. Wir mussten zusehen, wie sie starb. Doch wir waren nicht allein. Jeder beantwortete unsere Fragen so gut er konnte. Man brachte uns etwas zu trinken und zu essen und wir bekamen etwas zur Beruhigung, damit wir das, was uns bevorstand, überstehen konnten. In unserer schwersten Stunde wurden wir nicht allein gelassen.
Solch eine Erfahrung zu machen, ist sehr schwer und ich werde es nie vollends überwinden. Es wird immer ein Teil von mir sein. Aber es hilft mir dabei, zu verstehen, wie sich Familien und Freunde von meinen Patienten in einer solchen Situationen fühlen. Ich weiß, wie es ihnen geht und welche Bedürfnisse und Fragen sie haben. Man kann zwar den Tod nicht ungeschehen machen, aber man kann ihnen dabei helfen, die schwersten Stunden ihres Lebens zu überstehen.
Oft wurde ich schon gefragt, wie man solch einen Verlust überwinden und verarbeiten kann. Eine Patentlösung gibt es dafür nicht. Es funktioniert leider nicht so, wie bei Kopfschmerzen, wo man einfach eine Pille nimmt und dann ist alles wieder gut. Man braucht Zeit, Verständnis und Zuneigung.
Gerade bei Männern habe ich es erlebt, dass sie sich dann verschließen. Bloß keine Gefühle zeigen und Schwäche zulassen. Dabei leiden sie dann irgendwann mehr, als derjenige, der sich offen damit konfrontiert hat. Um den Verlust eines geliebten Menschen zu verarbeiten, muss man sich dem Ganzen früher oder später stellen, sonst macht es einen kaputt.
Als ich die ersten Male miterlebt habe, wie Patienten starben, hat mich das immer sehr schnell in meine eigene Vergangenheit zurückgeworfen. Oft hatte ich dann tagelang zu tun, um damit fertig zu werden. Mit der Zeit konnte ich aber besser damit umgehen und für die Patienten und ihre Angehörigen da sein. Sie nahmen es alle dankbar an.
Es heißt die Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt zwar, aber die Wunden heilen nicht ohne Narben. Aber diese Narben sind irgendwann so stabil, dass man gut mit Ihnen leben kann. Dass man sich wieder an schöne Dinge erinnern und darüber lachen kann. Und vor allem, dass man irgendwann in der Lage ist, anderen zu helfen, ohne dass man gleich wieder in ein tiefes Loch fällt.
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Diese Kolumne widme ich meiner verstorbenen Mama und einer guten Freundin, die erst vorwenigen Wochen ihren Vater verlor.