Hausbesuch mit Kamera
Als Christiane Langschied ihre Patienten zum ersten Mal auf Fotos sah, da schämte sie sich ein bisschen. Frau Langschied ist seit fast 20 Jahren Hausärztin auf dem Land in Mittelhessen, sie ist in der Gegend aufgewachsen und kennt die Familien viele ihrer Patienten bereits seit ihrer Kindheit. Und dennoch, auf einmal sah die Medizinerin bisher Verborgenes: Die tiefe Verzweiflung der ehemaligen Tanzlehrerin, der wegen einer Durchblutungsstörung ein Bein abgenommen werden musste. Die Zuversicht der älteren Witwe, die seit zehn Jahren ihr Haus allein bewirtschaftet. Die Einsamkeit der gelähmten Russin, die erst vor einigen Jahren nach Deutschland gezogen ist. „Es war mir unangenehm, was ich bislang alles übersehen hatte“, sagt die Landärztin.
Bild von Christiane Langschied
Darf man das eigentlich, kranke und alte Menschen, die oft blindes Vertrauen haben in ihren Hausarzt, so der Öffentlichkeit aussetzen? Auch Christiane Langschied hatte anfangs Hemmungen, das Leid ihrer Patienten auch noch abzubilden. „Ich sehe aber, wie viel Spaß ihnen das macht – viele schlagen mir inzwischen selbst vor, wie und wo ich sie fotografieren sollte.“ Im Interview erzählt Langschied, die nach der Schule Krankenschwester gelernt hat und erst später das Abitur für ein Medizinstudium nachholte, wie sie auf die Idee gekommen ist, ihre Patienten zu fotografieren – und wie sie es schafft, Bilder von so nackter Ehrlichkeit aufzunehmen.
Viele Menschen schämen sich, wenn Sie krank sind, wollen ihr Leid verstecken. Ihre Patienten gehen auf Ihren Fotos aber ganz offen damit um. Wie haben Sie das geschafft?
Langschied: Scham habe ich bei Erkrankungen relativ selten erlebt. Die Leute schämen sich eher, weil sie die Wohnung nicht aufgeräumt haben oder die Haare nicht gewaschen. Dennoch habe ich einen guten Zugang zu den Patienten. Ich glaube, ich gebe Ihnen das Gefühl, dass sie sich bei mir nicht lächerlich machen. Ich kann ihre Ängste meist nachvollziehen und verstehen – und wenn nicht, nehme ich sie trotzdem ernst. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch mal darüber lache und spaßig versuche, die Angst zu nehmen.
Was war der Anstoß, Ihre Patienten zu fotografieren?
Langschied: Fotografiert habe ich schon immer sehr gerne. Mein neuer Lebenspartner ist Fotograf. In seiner Wohnung fand ich vor ein paar Jahren einen Bildband der Fotografin Herlinde Koelbl. Es gab einen Abschnitt mit Fotos von Menschen in ihrer häuslichen Umgebung. Ich sagte: „So etwas sehe ich jeden Tag“. Die Antwort meines Partners war: „Dann nimm die Kamera mit und mach gute Bilder.“ Am nächsten Tag zog ich los.
Und wie haben die Patienten reagiert?
Langschied: Zu 90 Prozent positiv. Viele haben direkt verstanden, was ich damit wollte. Bei dem Bild, das meine Schulfreundin zeigt, wie sie ihre Mutter zu Hause pflegt, habe ich vorher auch gefragt. Die Tochter stutzte einen Moment, Pflegearbeit ist schwer und intim. Aber dann sagte sie: „Ja – zeig, wie es ist.“ Viele wollten wissen, wofür und für wen die Bilder sind. Ich habe ihnen erklärt, dass ich das Leben erkrankter Menschen und deren Umfeld dokumentieren möchte. Vielleicht wird irgendwann ein Bildband daraus.
Wie sehen Ihre Hausbesuche jetzt aus? Nehmen Sie immer die Kamera mit?
Nein, die Kamera nehme ich nicht immer mit, manchmal vergesse ich sie. Meistens brauche ich jetzt eine, eher zwei Stunden für Hausbesuche, bei denen ich fotografiere. Manchmal mache ich auch reine Fototermine aus, das kommt aber selten vor. Schließlich bin ich als Landärztin eh oft im Einsatz.
Wie hat sich Ihr Verhältnis zu den Patienten verändert, seit Sie sie fotografieren?
Wenn überhaupt, dann positiv. Die Menschen haben riesigen Spaß mit den Bildern, sind stolz, wenn sie veröffentlicht werden. Bei schlechter Stimmung lasse ich die Kamera aber auch in der Tasche. Man muss spüren, ob die Situation es zulässt.