Arzt und Ekel
Blut, Schleim, tief eingewachsene Fußnägel – wie widerlich! Ist es normal, dass ich mich als Arzt vor Patienten ekel? Ein alltägliches Thema, über das weder in Praxen noch in Krankenhäusern offen gesprochen wird – erstaunliche Erkenntnisse einer Psychologie-Professorin und Strategien, um mit dem Ekel umzugehen.
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Muss ich mir so etwas ansehen, muss ich das fühlen, riechen? Blitzschnell bricht der Schweiß aus allen Poren, der Puls stolpert vor sich hin und der Magen dreht sich sprichwörtlich um. Ok, jeder X-beliebige kann sich ekeln, der unerwartet einen stark blutenden Menschen vor sich sieht. So kann auch einer empfinden, zu dessen Aufgaben es nicht gehört, sich windende, glibbrige kleine Maden auf das abgestorbene Gewebe des diabetischen Fußes eines Patienten zu setzen. Aber ein Arzt – zumal einer, der schon ein „alter Hase“ in seinem Job ist – muss in diesen Situationen ungerührt weiterarbeiten. Er darf solche Anwandlungen nicht kennen, wo er doch in der Ausbildung schon an Leichen herumschnibbeln musste! Oder?
Ekel zu empfinden, sagt Professorin Anne Schienle, ist ganz normal. Auch Ärzte sind nicht davor gefeit, im Gegenteil. Schließlich sind sie es, die häufiger als andere Menschen mit Situationen konfrontiert werden, die allgemein als eklig empfunden werden. Die Psychologie-Professorin von der Uni Graz muss es wissen. Denn sie befasst sich seit 15 Jahren mit den verschiedensten Ausprägungen des Ekels und Strategien, damit umzugehen. Kaum zu glauben: Obwohl sich wohl jeder schon oft in seinem Leben so richtig geekelt hat, fand Anne Schienle dieses Forschungsfeld weitgehend unbeackert. „Der Ekel“ – ein Buchtitel von Jean Paul Sartre, aber als eigentliches Gefühl ein Tabu-Thema. Darüber wird aus Scham offenbar erst recht nicht in Krankenhäusern oder Arztpraxen gesprochen: Die Ärztekammer Nordrhein kennt aus den letzten Jahrzehnten nur einen einzigen Fall, in dem ein Mediziner mit diesem Problem Hilfe gesucht hat – und der wechselte dann den Beruf.
Aber wer will das schon? Und soweit muss es ja auch wirklich nicht kommen, wenn man sich klar macht: Ekel ist aus gutem Grund angeboren. Denn einerseits schützt er uns schon als Babys davor, etwas zu essen oder zu trinken, was verdorben oder sogar giftig ist. Im Zweifelsfall sorgt der Körper sogar dafür, dass wir das widerliche Zeugs wieder herauswürgen. Andererseits ist der Ekel auch dafür zuständig, uns vor möglichen Krankheitserregern zu bewahren. Und wo finden sich die? In Körperausscheidungen, in Blut oder verwesendem, faulendem Gewebe.
„Ekel hat auch mit Nähe zu tun, mit einer Nähe, die uns aufgezwungen wird und der man nicht entkommen kann“, sagt Dieter Morscher, der Pflegende an der Krankenpflegeschule im österreichischen Feldkirch schult. Er weiß ebenso wie Professorin Schienle: Auch mancher Arzt entwickelt diese Empfindungen erst im Lauf der Jahre – wird sensibler, je häufiger er Momente erlebt, die ihn mit der Zeit anekeln. Damit müssen Pflegende ebenso umgehen können. Damit sie nicht irgendwann verächtlich, zornig oder sogar gewalttätig gegenüber bestimmten Patienten werden, bei denen sie den Geruch ihres Kots oder den Anblick ihrer deformierten Körperteile einfach nicht mehr ertragen.
Nun kann man als Pfleger oder Helfer im OP natürlich schnell mal den Raum verlassen, wenn sich dieser beispielsweise beim Öffnen eines eitrigen Abszesses mit penetrantem Gestank füllt. Als Arzt geht das nicht – weder in dieser Situation, noch in vielen anderen, wo man dem (wachen) Patienten gegenübersitzt oder -steht. Was hilft also dagegen, dass einem der Ekel ins Gesicht geschrieben steht? Es ist doch äußerst lästig, dass das Zusammenspiel verschiedener Hirnareale einen dazu bringen kann, die Oberlippe hochzuziehen, die Nase zu rümpfen und die Augen zusammenzukneifen! Da sieht doch gleich jeder, was los ist – Kollegen und Schwestern werden schmunzeln oder nachher tuscheln, Patienten sind möglicherweise beleidigt oder gar verletzt. „Viele verbieten sich aus diesen Gründen das Ekelgefühl oder verdrängen es. Sie schämen sich davor, dass es jemand bemerken könnte“, erklärt Anne Schienle.
Die Psychologie-Professorin hat im Lauf ihrer Studien verschiedene Strategien entwickelt, die helfen können. Da ist zum einen das so genannte „Labeln“, was bedeutet: Ich betrachte ein Bild einer bestimmten Krankheitserscheinung, beispielsweise eines Hautekzems, an und lasse es zu, dass ich das eklig finde. Wiederhole ich dies ein paar Mal, gewöhne ich mich an den Anblick. Eine weitere Möglichkeit nennt sich „Reappraisal“, auf Deutsch Neubewertung. Schienle: „In diesem Fall nehme ich eine andere Position ein, schaue mir die Situation oder den Patienten an, als wäre ich beispielsweise der Zuschauer eines Films.“ Die Bewältigung des Ekelgefühls kann auch verstärkt werden, indem man innerlich zu sich selbst sagt: „Das geht bald vorbei! Alles wird gut!“
Nicht jeder empfindet Ekel gleich stark – genauso wenig ist jeder in der Lage, das Tabu zu brechen und sich einzugestehen, dass er einen Menschen, einen Geruch oder einen bestimmten Anblick eklig findet. Das hat Professorin Schienle mithilfe eines Fragebogens herausgefunden. Keine Angst davor, auch mal ein angewidertes Gesicht zu ziehen, rät sie allen, die diesen Rat annehmen können. „Die betroffenen Patienten wissen selbst, dass etwa der Anblick eines diabetischen Fußes nicht gerade appetitlich ist.“ Allen, die um keinen Preis möchten, dass man ihnen ihre Empfindungen ansieht, bleibt dann noch übrig, mit Humor zu reagieren und sich zum Beispiel einen Ekel-Arzt-Witz zu erzählen. Hier kommen zum guten Schluss zwei davon:
Eine ältere Dame kommt zum Arzt und sagt: „Doktor, ich habe diese Blähungen, obwohl sie mich nicht so sehr stören. Sie stinken nie, und sie gehen immer leise ab. Wirklich, ich hatte bestimmt schon zwanzig Blähungen, seit ich hier im Raum bin, obwohl Sie das nicht bemerken konnten, weil das ohne Geruch oder Geräusch passiert.“ Der Doktor: „Nehmen Sie diese Tabletten und kommen Sie in einer Woche wieder.“ Nach einer Woche erscheint sie erneut und sagt: „Doktor, was zum Teufel haben Sie mir da gegeben? Obwohl meine Blähungen immer noch leise sind, stinken sie fürchterlich!“ „Sehr gut. Jetzt, wo Ihre Nase wieder funktioniert, wollen wir uns um Ihr Gehör kümmern…“
Erste Vorlesung der Medizinstudenten im ersten Semester: Professor: „Meine Damen und Herren, zwei Dinge zeichnen einen guten Arzt aus. Erstens: die Fähigkeit Ekel zu überwinden, zweitens: messerscharfe Beobachtungsgabe. Wir fangen heute mit der Ekelüberwindung an.“ Sprach‘s und tauchte seinen Finger in ein Glas mit ekliger, stinkender, grün-gelber Flüssigkeit. Er zieht den Finger wieder raus und leckt ihn zum Entsetzen der Studenten ab. Er nimmt das Glas, geht zur ersten Sitzreihe und stellt es vor einen Studenten auf den Tisch… Der ziert sich eine Weile, taucht aber dann doch schließlich seinen Finger in das Glas und leckt ihn ab. Meint der Professor: „Ihren Ekel haben Sie zwar überwunden, aber Ihre Beobachtungsgabe lässt doch sehr zu wünschen übrig. Denn ich habe den Zeigefinger eingetaucht und den Mittelfinger abgeleckt.“
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