Freitag, 16. Juni

Urlaub mit Erster Hilfe

Immer auf Notruf

von Johanna Weiß

Ostern bedeutet Ferienzeit. Auch mein Mann und ich dachten uns, dass wir für ein paar Tage wegfahren und ein wenig Urlaub machen. Also packten wir unsere Sachen, stiegen ins Auto und fuhren los. Damit wir aber unseren Beruf nicht vergessen, wurden wir noch mit einem letzten medizinischen Auftrag in die Ferien geschickt.

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Medicine Man

Wir waren keine Stunde auf der Autobahn unterwegs, da sahen wir schon die ersten Bremslichter und Warnblinkanlagen vor uns. Langsam fuhren wir an die stehenden Autos heran und sahen ca. 150 Meter vor uns ein qualmendes Auto, das quer auf der Fahrbahn stand. Mein Mann fuhr unser Auto an die Seite und ich stieg aus und lief zu der Unfallstelle.

Schon von weitem hörte ich eine Frau weinen. Dutzende Menschen standen um das Unfallfahrzeug herum. Der hintere linke Reifen war geplatzt und die Motorhaube total verformt. Ich schob mich durch die Menge und stellte mich vor, damit man mich an die Insassen ließ. Plötzlich sagte ein Mann neben mir „Ich bin auch Pfleger.“. Ich schaute ihn an und sah, wie er mit den Händen in den Hosentaschen die Unfallszenerie beobachtete. Als ich fragte, ob er schon den Rettungsdienst und die Polizei alarmiert hätte, guckte er mich nur verblüfft an und schüttelte den Kopf. Ich war entsetzt. „Na dann mal los!“ sagte ich. Er zückte sein Handy und begann zu telefonieren.

Ich schaute mich weiter um. Bis auf die Fahrerin liefen alle Insassen umher. Sie schienen nicht schwer verletzt zu sein. Eine der Insassen hatte ein kleines Kind auf dem Arm. Ein Blick in das Auto verriet mir, dass sich kein Kindersitz darin befand. Das Kind wurde also während der Fahrt nur auf dem Schoß gehalten. „Unglaublich!“ dachte ich nur. Ich wandte mich der Fahrerin zu. Sie saß immer noch angeschnallt hinter dem Steuer und weinte laut. Ein alter Mann hatte sie komplett in seinen Armen vergraben und wollte sie trösten. Nur mit viel gutem Zureden konnte ich ihn von ihr lösen.

Ich fragte sie nach ihrem Namen und versuchte mir ein Bild zu machen. Sie konnte alles bewegen und gab erstmal keine Schmerzen an. Ich schnallte sie ab und zusammen mit meinem Mann brachte ich sie an den Seitenstreifen und setzte sie ins Gras. Mein Mann lief wieder los, um die anderen Insassen und Helfer von der Fahrbahn zu holen, denn die Unfallstelle war nach wie vor nicht gesichert.

Als die Fahrerin ihr zerstörtes Auto sah, brach sie erneut in lautes Weinen aus. Sie begann zu hyperventilieren und ich hatte alle Mühe sie zu beruhigen und ihr zu helfen, normal zu atmen, damit sie nicht ohnmächtig wird. Ich schickte jemanden los, um ihr etwas zu trinken zu holen. Um sie abzulenken stellte ich ihr allerhand Fragen. Das war ganz gut, denn jetzt konzentrierte sie sich mehr auf mich und wurde auch ruhiger. Zwar kamen ihre Antworten sehr verlangsamt, aber sie war voll orientiert. Das war schon mal gut. Auch Schmerzen verneinte sie weiterhin. Soweit ich das beurteilen konnte, sind erstmal alle mit einem Schrecken davon gekommen.

Die Autofahrer, die hinter der Unfallstelle anstanden, wurden nun langsam ungeduldig und begannen, um das Unfallfahrzeug herum zu fahren. Die ersten fuhren noch langsam und vorsichtig. Doch je mehr Autos vorbei kamen, umso schneller wurden sie. Da sie alle auch neugierig waren und sich unbedingt die Unfallstelle angucken mussten, kam es zweimal fast zu einem erneuten Unfall.

Plötzlich sprang neben mir auch noch eine der anderen Insassen auf und lief wieder zum Unfallfahrzeug. Entsetzt rief ich ihr hinterher, dass sie zurückkommen solle, doch ich erhielt als Antwort nur „Ich brauche dringend meine Tasche.“ Egal, wie laut wir alle riefen, sie durchsuchte in aller Ruhe das Auto, während sich dahinter die anderen Autos in nur einigen Zentimetern Abstand am Auto vorbei drückten. Es hätte sich nur einer der anderen Fahrer versteuern müssen und wir hätten gleich den nächsten Unfall gehabt. Es war, wollte man einen Sack voll Flöhe hüten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir endlich Sirenen. Mit Mühe und im Schritttempo quetschen sich Polizei und ein RTW durch die Massen an Autos. Ich atmete auf, denn nun traute sich kein Autofahrer mehr an der Unfallstelle vorbeizufahren. Als der RTW anhielt und die Rettungsassistentin ausstieg, stellte ich erfreut fest, dass ich sie kannte. Ich erzählte ihr kurz, was passiert war und dann kümmerten sie und der Rettungssanitäter sich um die Fahrerin und die restlichen Insassen. Keine Minute später hatte sich auch die Feuerwehr durch die Automassen gekämpft und begann sich um das verunfallte Auto und die ausgelaufenen Flüssigkeiten zu kümmern.

Da nun RTW, Feuerwehr und Polizei vor Ort waren, wurden wir nicht mehr gebraucht. Wir hatten noch einige hundert Kilometer vor uns und waren froh, dass wir nun weiter fahren konnten. Als wir wieder im Auto saßen, unterhielten wir uns über das Erlebte. Wir hatten beide zum ersten Mal erlebt, wie kopflos die Leute in solchen Situationen sein können, selbst medizinisch ausgebildetes Personal. Dabei war noch nicht mal jemand ernsthaft verletzt worden. An diesem Tag bekam ich einen ersten kleinen Vorgeschmack darauf, was mich alles erwarten kann, wenn ich einmal als Notärztin zu solchen Situationen gerufen werde.

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