Lektüre | Rezension
Alfons Morales | unsplash.com
Wer das Magazin NEON mag, wird die Kolumne „Sprechstunde“ darin lieben. Geschrieben wird sie von Dr. Marco Moor, einem jungen Internisten, der eigentlich anders heißt. Unter diesem alliterarischen Pseudonym erzählt er Geschichten aus seinem Krankenhaus-Alltag, der alles andere als alltäglich ist. Die Fans seiner spannenden und immer unterhaltsamen Folgen haben nur darauf gewartet, dass eine kompakte Ladung Moor-Stories auf dem Markt erscheint. Sie ist jetzt da und unsere Meinung dazu bereits gebildet.
Das war sie eigentlich schon nach dem ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis mit den vielen witzigen und vielversprechenden Kapitelnamen („Das Immunsystem einer Bahnhofsnutte in Bukarest“, „Leben und sterben lassen“ oder „Adventsdepression“) und spätestens nach dem Genuss der ersten Seiten. Schnell wird klar: Hier geht’s um Alles und Belangloses, um Absurditäten und Normalität, um viel Spaß und ein bisschen Leid, um die Vor- und die Nachteile des Arztseins, die Klischees und Wahrheiten – bei Ärzten und Patienten, es geht um Frau und Mann, um persönliche Macken und Stärken, Erfolg und Niederlagen, Ekel und Anziehungskraft, Tod und Geburt.
In Moors Leben scheint mit Ausnahme von Naturkatastrophen und Terroranschlägen alles vorzukommen, was in allen Staffeln Grey’s Anatomy und Emergency Room zusammen kunstvoll nachgestellt werden musste. Der junge Typ ist unglücklich verliebt, trotzdem beliebt, er macht grobe Fehler, und rettet im nächsten Augenblick Leben, er fährt Gefühlsachterbahnen und ist bei all dem Auf und Ab am Boden geblieben – ein bisschen cool, ein bisschen mickrig. Und so, wie wir es von dramatischen US-Krankenhausserien kennen, passiert es auch beim Lesen von Moors Geschichten, dass mal der Atem stockt oder vielleicht sogar eine Träne kullert – wenn auch nur vor Lachen. Ach übrigens, was Dr. Moor von diesen Serien denkt, erfahren wir auch…
Was Moor par excellence beherrscht, ist das Jonglieren mit antagonistischen Begriffen, Situationen und Gedanken. Wenn Moor Wörtern wie „Tod“ und „Muttermund“ die gleiche staubtrockene Tonalität verleiht, scheinen sie beinah zu singulären Bedeutungen zu verschmelzen. Er erklärt auch, wieso das so ist: „Mir selbst fällt es nicht mehr so schwer, „tot“ zu sagen. 20 Minuten später sind die Leute wieder weg. Auf Klinikfluren ist kein Platz für Mitleid. Man könnte sagen, dass diese Erkenntnis schon so was wie Berufserfahrung ist. Oder Abstumpfung. Aber das will ich lieber nicht sagen. Nein, Abstumpfung ist es nicht. Es ist nur die nüchterne Erkenntnis, dass es wirklich niemandem hilft, wenn ich auch mitheule. Ich kann Mitgefühl ganz unten verstecken.“ Außerdem mag Moor keine Kinder (auf dem Behandlungstisch), dafür Katja, er hasst öffentliche Verkehrsmittel und Thoraxdränagen, und liebt Keime und seinen weißen Kittel, klaut Magenschutztabletten aus dem Medikamentenschrank, bringt dafür seine seine Nichte auf die Welt, er trägt Plastik Croqs, auch sehr viel Verantwortung, ist trotzdem manchmal nachlässig, dafür aber reflektiv und lernwillig. Außerdem ist er überzeugt, dass der Mann mit Hepatitis C in den „Fickferien“ war.
So funktioniert Lesernähe, besonders dann, wenn Moors Leser Ärzte sind. Wie Moor mit dem Tod umgeht, wie er mit herausgerutschten Venenkathetern, der traurigen Vorweihnachtszeit im Krankhenhaus oder der unendlichen Müdigkeit während der Nachtschicht kämpft, wird vermutlich jedem Berufskollegen bekannt vorkommen. Identifikation auf höchstem Niveau. Was sich andere Ärzte von diesem hier abgucken können, ist die Eigenschaft, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Auch die belastenden und nervigen. Und die dann mit möglichst gesunder Distanz und vor allem mit viel Humor. Der bittere Ernst des Ärzte-Alltages wird hier zu einem leichten, lustigen Sujet, aber so, dass es nicht heruntergespielt wird.
Fazit: Dringende Kaufempfehlung für (angehende) Ärzte und die, die Ärzte verstehen wollen, für allgemein Medizininteressierte, misstrauische und arrogante Krankenhauspatienten, Liebhaber humoristischer Literatur, und die des schwarzen Humors, so auch für Pessimisten, Lebensphilosophen, Freunde bunter Illustrationen, die die beschriebenen Szenarien zynisch untermalen. Vermutlich werden sich all diese unterschiedlichen Gruppen dank Marco Moors Einsichten einigen, dass Ärzte tatsächlich nur fehlerhafte Menschen sind. Aber – um diesen Beitrag mit Moors geliebtem Antagonismus zu beenden – mit dem vielleicht schönsten und schlimmsten Beruf zugleich.
Dr. Marco Moor, Empfehlung, Geschichten, Heyne, Krankenhaus,
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